Blog 2022-07

Verrauscht, verzerrt, voreingenommen – Wie unsere Wahrnehmung Zusammenarbeit beeinflusst

Autorin: Rebecca Hanker

Dein Projekt hat das Budget schon längst überschritten und die ersten Auswertungen zeigen, dass das, was zu erwarten ist, nicht das gewünschte Ergebnis bringen wird. Du hast schon viel Zeit und Geld investiert und du weißt, dass es sich lohnen wird, dran zu bleiben. Immerhin bist du Experte auf diesem Gebiet und schließlich hat niemand so viel dafür gearbeitet wie du. Aber gedankt hat es dir natürlich keiner. Aufhören? Kommt gar nicht infrage. Die Geschäftsleitung wird sowieso keine aktive Entscheidung treffen, es zu stoppen. Daher jetzt erst Recht …

Wir sind keine objektiven Urteilsmaschinen

Unser Gehirn liebt zwei Dinge: Geschichten und Abkürzungen. Beides kann für uns sehr nützlich sein. Leider führt es aber dazu, dass wir in unserem Alltag etlichen Urteils- und Wahrnehmungsfehlern unterliegen, sogenannten kognitiven Verzerrungen. Völlig unbemerkt treffen wir dadurch irrationale Entscheidungen. Tatsächlich sind wir ganz schön voreingenommen. Menschen sind leider keine objektiven Urteilsmaschinen, auch wenn das im beruflichen Kontext oft von uns erwartet wird.

Um das zu verdeutlichen, lasst uns mit einer kurzen Denksportaufgabe starten:

 „Ein Schläger und ein Ball kosten 1,10 Dollar.
Der Schläger kostet einen Dollar mehr als der Ball.
Wie viel kostet der Ball?“

Was meint ihr? Merkt euch eure Antwort. Wir brauchen sie noch.

Mit seinen Büchern „Schnelles Denken, langsames Denken“ (2011) und „Noise“ (2021) hat Daniel Kahneman die Begriffe „Bias“ (Voreingenommenheit) und „Noise“ (Rauschen) in unseren allgemeinen Sprachgebrauch gebracht und aufgezeigt, welchen mentalen Mustern Menschen tatsächlich folgen.

Weniger verrauscht, verzerrt und voreingenommen sein? Klar gern, aber wie? Unsere Denkfehler zu erkennen ist nicht einfach. Dennoch sollten wir versuchen, ihnen auf die Schliche zu kommen, denn hier steckt großes Potenzial, um gelingende Zusammenarbeit zu fördern, bessere Entscheidungen zu treffen und am Ende wirklich nutzbringende Ergebnisse zu erzielen.

Ein Gehirn, zwei Systeme

Warum sind wir so anfällig für Urteils- und Wahrnehmungsfehler? Antwort darauf liefert ein Blick auf die Vorgänge in unserem Gehirn. Kahneman nutzt zur Erklärung, das „Zwei-System-Modell“. Stellt euch vor, Informationen in unserem Gehirn werden durch zwei unterschiedliche Systeme verarbeitet:

System 1 arbeitet automatisch, schnell, spontan, emotional, intuitiv und ohne Steuerung. Während sich System 2 um die wirklich anstrengenden mentalen Aktivitäten kümmert. Es ist das bewusste, logisch denkende Selbst. System 1 ist um ein Vielfaches schneller und generiert fortwährend Vorschläge für System 2 beispielsweise durch Gefühle, Eindrücke und Neigungen. Werden diese von System 2 unterstützt, entstehen willentlich gesteuerte Handlungen.

Der größte Teil unseres Denkens und Handelns geht allerdings aus System 1 hervor. Genau wie unser erster Impuls bei der Denksportaufgabe oben zu sagen: 10 Cent. Habt ihr auch gedacht, oder? Leider falsch. System 2 übernimmt immer dann, wenn es schwierig wird. Die richtige Antwort ist nämlich? Richtig: 5 Cent.

Eigentlich eine hervorragende Arbeitsteilung. Die Reaktionen von System 1 sind prompt und meist sehr gut. Auch wenn wir heute nicht mehr vor dem Säbelzahntiger flüchten, besitzen wir alle die Fähigkeit, mit so wenig Informationen wie möglich schnelle Entscheidungen zu treffen. Und diese Fähigkeit sicherte unser Überleben und hilft uns heute noch, uns schnell in der Welt zurechtzufinden. System 1 sei Dank.

Unser Hirn steht also meistens auf Autopilot unseres ersten Systems, wählt gern Abkürzungen, spart damit unfassbar viel Energie und erfindet hinterher Geschichten und Narrative, die uns dabei helfen, etwaige Widersprüche für uns aufzulösen. Von Logik oder Statistikverständnis fehlt im System 1 jede Spur. So fallen uns unsere Irrtümer im Alltag gar nicht auf und wir kreieren uns unsere ganz eigene Realität. Herzlich willkommen in der Welt kognitiver Verzerrungen. Gerade im beruflichen Kontext ist das natürlich hoch interessant. Wird doch von den meisten von uns erwartet, objektive Entscheidungen und Urteile zu treffen.

Wir sind „Verlustvermeider“, statt knallharte „Nutzenmaximierer“

Während in den 70ern die Sozialwissenschaftler noch davon ausgingen, dass Menschen sich im Allgemeinen rational verhalten und klar denken, stellten die Forschungsarbeiten aus demselben Jahrzehnt von Daniel Kahnemann und seinem Kollegen Amos Tversky diese Annahme in Frage. Ihre „neue Erwartungstheorie“ (Prospect-Theorie) räumt mit dem Bild des Homo oeconomicus auf. So finden sie Erklärungen für typische menschliche Verhaltensweisen, vor allem bei Entscheidungsfindungen unter Unsicherheit, die mit Rationalität mal so gar nichts gemein haben.

Sie gehen davon aus, dass für Menschen nicht das Gewinnen die entscheidende Motivation ist, sondern das Vermeiden von Verlust. Verluste werden von Menschen stärker wahrgenommen als Verbesserungen. Wir sind demnach eher „Verlustvermeider“, statt knallharte „Nutzenmaximierer“. Ein Gamechanger, der Kahnemann 2002 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften einbrachte.

Wir alle gehen morgens voreingenommen zur Arbeit

Die Erkenntnis, dass Menschen „Verlustvermeider“ sind (loss aversion bias), erklärt, warum jegliche Veränderungs-, Transformations- oder Neuordnungsprozesse in Unternehmen eigentlich nie so laufen wie geplant und in der Regel auch mehr kosten. Am Ende soll natürlich eine grundsätzliche Verbesserung erzielt werden. Dabei wird es Mitarbeitende geben, die etwas gewinnen und jene, die etwas zu verlieren haben. Die potenziellen Verlierer werden demnach immer aktiver und entschlossener Handeln als potenzielle Gewinner. So wird das Ergebnis zu ihren Gunsten verzerrt, weil mehr aufgewendet werden muss, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Wir geben uns schnell mit Gewinnen zufrieden, aber halten umso länger an Verlusten fest.

Mittlerweile sind bereits über 100 solcher kognitiven Verzerrungen beschrieben. Eine kleine Auswahl derer, die unser Arbeitsleben und damit unsere Zusammenarbeit maßgeblich beeinflussen, habe ich hier zusammengestellt.

  • Vermutlich habt ihr alle schon Projekte erlebt, deren Kosten explodieren, genau wie in unserem Beispiel vom Anfang. Aber keiner zieht die Reißleine? Eine Erklärung könnte die Versunkende-Kosten-Falle (sunk-cost fallacy) sein. Wir können nur schwer Dinge abbrechen, in die wir bereits Zeit, Geld und Herzblut gesteckt haben. „Wir können das jetzt auf keinen Fall einstellen, wir haben schon zu viel investiert“, hört man in Unternehmen öfter mal.
  • Hervoragend dazu passt der Unterlassungseffekt (omission bias). Wir schätzen subjektiv das Risiko der Handlung im Vergleich zum Risiko der Unterlassung deutlich höher ein. Weil dem so ist, verharren wir so gern in Situationen und scheuen uns Verantwortung zu übernehmen Na, wer wartet gerade noch auf eine Entscheidung der GL? Hände hoch.
  • Der Bestätigungsfehler (confirmation bias) ist eine Verzerrung, die die Zusammenarbeit enorm beeinflussen kann. Er führt dazu, dass wir uns immer die Informationen suchen, die unsere schon bestehenden Annahmen bestärken. Statt gemeinsam ein Problem zu lösen und unserem Gegenüber zuzuhören, versuchen wir unsern Standpunkt zu untermauern, um dann sagen zu können: „Siehst du, hab ich dir doch gesagt!“
  • Das, was wir erinnern, ist für uns natürlich Fakt. Und erinnern können wir vor allem das, was wir gerade erlebt oder selbst gemacht haben. Kahneman nennt das Verfügbarkeitsheuristik (availability heuristic). Klar, dass wir uns beispielsweise an unseren Fleiß und Mühe stärker erinnern als an die Beiträge der Kollegen. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass alle Mitglieder eines Teams das Gefühl haben, mehr getan zu haben als die anderen und ihnen dafür mehr Anerkennung gebührt. Genau wie in unserem Beispiel zu Anfang erwartet man oft mehr Dankbarkeit für den persönlichen Einsatz. Na, kommt euch das bekannt vor?
  • In die gleiche Kerbe schlägt der IKEA Effekt. Dahinter steht unsere Voreingenommenheit, dass wir Dingen, die wir selbst tun oder bauen übermäßig mehr Wert zu schreiben als von anderen. So kann auch bei dieser Verzerrung das, was wir zur Zielerreichung beigetragen haben, einen höheren Stellenwert für uns einnehmen als der Beitrag unserer Kollegen.

Das langsame Denken von Organisationen

Unser Gehirn neigt also zu schnellen Urteilen, ohne dass wir es bewusst wahrnehmen. Grundsätzlich sind Organisationen besser in der Lage, solche Fehler zu vermeiden als der einzelne Mensch.

Warum? Weil sie langsamer denken und die Macht besitzen, geordnete Abläufe durchzusetzen. Sie können nützliche Kriterien für Beurteilungen schaffen und damit Referenzrahmen, in denen sich Mitarbeitende orientieren können. Wieder ein kleines Plädoyer dafür, bei den Verhältnissen anzufangen und nicht beim Verhalten.

Klare Budgets, klare Zeitvorgaben, iteratives Arbeiten mit direktem Feedback unserer Stakeholder können uns jedenfalls vor uns selbst und vor einigen der oben genannten Biases schützen. So können die positiven Effekte diverser Teams auch gleich zu Nichte gemacht werden, wenn wir darüber hinaus nicht auch Arbeitsweisen etablieren, die gegen unsere Biases ankämpfen.

Stellt euch vor, ihr wollt gemeinsam ein Problem lösen und startet mit einem Brainstorming in einer offenen Diskussion. Ich beobachte immer wieder, wie Teilnehmende schon von der ersten Wortmeldung beeinflusst werden. Beginnt lieber damit, dass jeder seinen eigenen Standpunkt einmal zu Papier bringt, bevor ihr in die Diskussion geht. Auch das regelmäßige bewusste Einnehmen der Gegenperspektive oder die Annahme des Gegenteils kann wahre Wunder wirken.

What about me?

Und wie sieht es nun bei uns selbst aus? Können wir unsere eigenen kognitiven Verzerrungen überwinden? Wenn ihr denkt: klar! Dann Vorsicht vor dem Dunning-Kruger Effekt, denn je weniger kompetent man ist, je mehr neigt man zur Selbstüberschätzung.

Laut Kahneman lassen sich kognitive Verzerrungen schwer vermeiden, vor allem weil unser System 2 oft gar nichts von unseren „Irrungen und Wirrungen“ ahnt. Wir wollen uns ja auch nicht gedanklich völlig lahmlegen, indem wir uns ständig hinterfragen. Ich persönlich nehme lieber den ein oder anderen Denkfehler oder eine verzerrte Wahrnehmung in Kauf, wenn es mir im Gegenzug erlaubt, mich schnell in dieser Welt zurechtzufinden. Mein Kollege spricht übrigens deswegen in diesem Kontext nur sehr ungern von „Denkfehlern“. Denn wer weiß, wie die Alternative wäre? Nur langsames Denken scheint sehr verhängnisvoll.

Kahneman rät uns dennoch, uns Situationen zu vergegenwärtigen, in denen solche Verzerrungen wahrscheinlicher sind, um uns dann bemühen, sie zu vermeiden. Sich gerade in Teams bewusst Zeit zu nehmen, für diese Art der Reflexion kann die Zusammenarbeit enorm verbessern und hilft uns dabei, aus dem Hamsterrad  auszusteigen und System 2 in Gang zu bringen. Kognitive Verzerrungen bei anderen zu erkennen ist übrigens deutlich einfacher als bei sich selbst.

Eigentlich wollte ich noch ein Kapitel über „Noise“ schreiben, aber dann kritisieren Frank und Christoph wieder, dass meine Blogartikel einfach zu lang sind. Wahrscheinlich zu Recht. Oh, vielleicht eine meiner kognitiven Verzerrungen? Ach nee, das ist leider Realität. Mist.

LabSample

Best of Biases
Das Zwei-System-Modell

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