Blog 2022-11

Führung? Klar! Aber bitte ohne Brandstifter und Feuerlöscher

Autor: Christoph Bauer

“Wir bewegen uns wie ein Öltanker, der Markt braucht aber Flexibilität.“ „Bei der Termintreue stehen wir auf einer Skala von 1-10 bei 3.“ „Wir haben halt einige kleine Königreiche.“ „Wir ziehen nicht gemeinsam an einem Strang. Das große Ziel kennen die meisten Leute auch gar nicht.“ „Keiner traut sich so richtig, in bestimmten Themen Verantwortung zu übernehmen.“

Das sind krasse Aussagen, die mir von Führungskräften und Mitarbeitenden des F&E-Bereiches eines Maschinenbau-Unternehmens genannt wurden.

Aber starten wir am Anfang. Vor einigen Monaten kam der Kontakt zu einem Maschinenbau-Unternehmen zustande. Der F&E-Bereichsleiter wollte seinen Bereich neu aufstellen, denn eines war klar: So konnte es nicht bleiben. Er wusste, es braucht eine andere Verantwortungskultur, wenn sie innovativer und bezüglich der Termintreue in den Entwicklungsprojekten verlässlicher werden wollen. Und doch stand er ratlos vor der Frage, wie genau das gelingen kann. „Wir stecken in unserer eigenen Komplexität fest.“ „Wir fühlen uns wie die Maus vor der Mausefalle.“ – so einige seiner Aussagen.

Eine Frage, die mich dabei umgetrieben hat, war: Wie konnte es dazu kommen, dass dem F&E-Bereich im eigenen Unternehmen nicht viel zugetraut wurde?

Brandstifter und Feuerlöscher

Nach den ersten Gesprächen und Interviews zeichnete sich ein vielschichtiges Bild bezüglich der Ursachen.

Überlastung und Überforderung der Mitarbeitenden lähmten die Organisation. Fehlende Standards und Kenntnisse im Projektmanagement führten zu Ineffizienzen in der Steuerung und Bearbeitung der Entwicklungsprojekte. Verantwortung diffundierte durch unklare Rollenkonstrukte. Führungskräfte sprangen in das gefühlte Verantwortungsvakuum und verhinderten dadurch die angestrebte Verantwortungsübernahme der Mitarbeitenden. Gleichzeitig fehlten ein strukturiertes Portfoliomanagement und klare Priorisierungen bzgl. der Projekte. Insgesamt war die Organisation stark auf die Führungskräfte ausgerichtet. Diese wurden allerdings gleichermaßen als Brandstifter und Feuerlöscher wahrgenommen. Brandstifter, weil zu viele Projekte gleichzeitig gestartet wurden. Feuerlöscher, weil sie immer wieder Einsprangen, wenn es brannte.

Nun war guter Rat teuer. Wie schafft man es, klarere Strukturen in der Steuerung und Durchführung der Projekte zu schaffen und gleichzeitig die Verantwortungsübernahme der Mitarbeitenden zu stärken?

Alles Agile – oder was?

Der F&E-Leiter war ein großer Fan von Agilität. In seinem vorigen Unternehmen hatte er sehr gute Erfahrungen mit der Arbeit in agilen Teams gemacht. Das wollte er nun auch hier etablieren.

Aber würde es die Organisation nicht überfordern? Würde die starke Ausrichtung der Mitarbeitenden auf die Führungskräfte es überhaupt ermöglichen, eine Verantwortungskultur auch bei den Mitarbeitenden zu stärken?

Einige Stimmen aus den Interviews ließen erahnen, dass die Mitarbeitenden durchaus gerne mehr Verantwortung übernehmen würden. „Wir müssen raus aus der Beamtendenke, oben treffen sie die Entscheidungen und dann sagen sie: macht mal!“ „Keiner traut sich so richtig, in bestimmten Themen Verantwortung zu übernehmen. Keiner möchte am Ende die Entscheidung treffen. Warum? Es ist nicht klar, ob man die Entscheidungen treffen darf.“ „Jeder hat sein eigenes Bild von seiner Rolle – Aber ein gemeinsames Verständnis gibt es nicht.“

Führung ist zu wichtig, um es nur den Führungskräften zu überlassen

Ermutigt durch die gefühlte Bereitschaft der Mitarbeitenden ging es also ans Werk. Gemeinsam haben wir ein Organisationsdesign entwickelt, dass …

… die Verantwortung der Mitarbeitenden fördert,
… eine klare Steuerung des Projektportfolios ermöglicht,
… die interdisziplinäre Zusammenarbeit stärkt und Silos auflöst,
… und gleichzeitig jedem Mitarbeitenden eine fachliche Heimat bietet.

Dabei war es wichtig, die existierende Rollenkonfusion aufzulösen und Rollen zu definiert, die für alle klar und nachvollziehbar sind. Weiterhin sollte mit den Rollen mehr Verantwortung auf die Mitarbeitenden übertragen werden. So ist ein Führungssystem mit folgenden Rollen entstanden: Product Management, Program Management, Product Owner, Scrum Master und People Lead. Dabei bilden interdisziplinäre Teams, die sich aus Mitarbeitenden der verschiedenen Center of Competences (fachliche Heimat, vormals Abteilungen) zusammensetzen, den Kern der Organisation.

Die neue Organisation verteilt somit die Führungsaufgaben auf verschiedene Schultern. Schaut dazu gerne mal in unser LabSample „Dreiklang der geteilten Führung“.

Raum der Verwirrung und Orientierungslosigkeit

Bei den Mitarbeitenden kommt insbesondere die Klarheit der Rollen sehr gut an. Gleichzeitig befinden sich die Führungskräfte jedoch in einem Prozess der Neuorientierung. Wen wundert es, denn die Führungsaufgaben, die bislang auf ihre Person zentralisiert waren, sind nun auf verschiedene Rollen verteilt.

Der Psychologe Claes F. Janssen spricht in seinem Modell „Haus der Veränderung“ in dieser Phase vom „Raum der Verwirrung und Orientierungslosigkeit“.

Eine Führungskraft hat es mit bedauern mal so formuliert: „Jetzt kann ich nicht mehr alles machen.“ Das stimmt. Weil die Führungsaspekte auf verschiedene Rollen verteilt sind, muss sie sich entscheiden. Möchte sie als People Lead agieren, also sich um die Themen der disziplinarischen Führung und der Entwicklung der Mitarbeitenden kümmern. Oder möchte sie in den Projekten strategische und fachliche Führung übernehmen, – dann ist die Product Owner Rolle die richtige. Wenn ihr die interdisziplinäre Zusammenarbeit und die Unterstützung der Teams wichtig sind, dann wäre sie als Scrum Master an der richtigen Stelle.

Es ist also die Frage nach dem eigenen Selbstbild als Führungskraft und dem eigenen Selbstverständnis, dass jede Führungskraft für sich klären muss. Da spielen natürlich auch Themen wie Einfluss und Status als Führungskraft rein.

Eine neue Landschaft lässt sich nur im Gehen erkunden

Veränderungen des Führungssystems durch neue Rollen und die Stärkung einer organisationalen Verantwortungskultur stellt eine Veränderung auf der Ebene der Identität der Organisation und der Menschen dar. Grundannahmen, die bislang für selbstverständlich galten, sollen verlernt werden.

Solche Veränderungen geschehen nicht über Nacht. Man kann ein Organisationsdesign zwar auf dem Papier entwerfen, ausgestaltet wird es jedoch im konkreten Tun. Nur durch Erfahren, Erfühlen und in Resonanz gehen mit der neuen Art der Führung können die Beteiligten schrittweise ein neues Selbstverständnis und eine neue Identität entwickeln.

Genau in diesem Prozess befindet sich nun der Bereich. In der Begleitung des Prozesses sind folgende Punkte wesentlich:

  • Persönliche Gespräche

    Bei einer Veränderung dieser Art haben manche Führungskräfte das Gefühl, etwas zu verlieren: Einfluss, Status etc. Schon deswegen braucht es einen engen Kontakt und persönliche Gespräche mit den Führungskräften, um ihren Prozess der Neuorientierung und Verortung bezüglich der neuen Rollen zu unterstützen.

    Bei einigen Führungskräfte ist klar, dass sie sich darauf freuen, sich als Product Owner auf die fachliche Führung konzentrieren zu können. Die disziplinarischen Führungsaufgaben haben sie eh nicht so gemocht. Andere wollen weiterhin disziplinarisch führen. Dazu müssen sie unbedingt verstehen, welche Führungsaspekte zur Rolle des People Leads gehören und dass so manche Form der Steuerung durch andere Führungsrollen verantwortet wird.
  • Schärfung der Rollen

    In der Gesamtorganisation ist es wichtig, dass alle die neuen Rollen verstehen. „Jeder hat sein eigenes Bild von seiner Rolle; aber ein gemeinsames Verständnis gibt es nicht.“ Diese Aussage aus den Interviews zu Beginn sollte sich nicht wiederholen. Es braucht also viel Kommunikation und Erläuterungen zu den Rollen, damit keine Parallelwelten im Rollenverständnis entstehen.
  • Befähigung

    Wenn erst mal klar ist, wer welche Rolle einnimmt, ist im nächsten Schritt wichtig, die Rolleninhaber in der Ausübung ihrer Rolle zu befähigen. Trainings, Coachings und die Begleitung der Beteiligten im konkreten Tun sind hier von Bedeutung.
  • Ausprobieren und Reflektieren

    Wie die Organisation das Rollen- und Führungssystem lebt, ist immer individuell. Die Landschaft lässt sich nur im Gehen erkunden. Es gilt also, Erfahrungen mit den neuen Rollen zu sammeln, sie dabei zu konkretisieren und auszugestalten und regelmäßig zu reflektieren, welche Anpassungen es benötigt.
  • Standhaftigkeit des Managements

    Bei Veränderungen dieser Tragweite ist immer mit Abwehrreaktionen des Immunsystems der Organisation zu rechnen. Deswegen ist es von enormer Wichtigkeit, dass das Top Management immer wieder unmissverständlich klar macht, dass es ein Rückfall in die alte Welt und alte Muster nicht toleriert.

Ich sehe mit Zuversicht und Freude auf den Prozess. Denn die bisherigen Reaktionen zeigen viel Zustimmung und Neugier. Auch wenn bei dem ein oder anderen noch eine Spur Skepsis zu spüren ist. In einem späteren Blog berichte ich gerne darüber, wie sich der F&E-Bereich weiterentwickelt hat und ob sich die gewünschten Effekte bezüglich Time-to-Market, einer verbesserten Zusammenarbeit und gestärkten Verantwortungskultur eingestellt haben.

LabSample

Dreiklang der geteilten Führung
Haus der Veränderung

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